Gefangen im Netz
Kinder mit virtuellem “Ich”
Die Autorin über Mediensucht und ihre Protagonisten
von Sibylle Smolka
Gleich bei den ersten Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen wurde mir klar: Medien gehören heute zur Kindheit. Alle Kinder wollen gern fernsehen, alle Jugendlichen tummeln sich im Internet und lieben Computerspiele. Handys sind nicht mehr wegzudenken. Chatten ist nicht nur Kommunikation, sondern verschafft eine Art von Wohlbefinden.
Die meisten Jugendlichen nutzen die Medien so exzessiv, dass es ihnen und ihren Eltern peinlich ist, darüber im Fernsehen zu sprechen. Das zeigte sich als Problem: Es begann eine lange Suche nach jungen Menschen, die bereit waren, mich in ihre Medien-Welt hinein zu lassen. Diese Welt hat eigene Rituale und Regeln, einen eigenen Sprachcode, für Außenstehende unverständlich und unzugänglich: alle über 20 - bitte draußen bleiben.
Vokabeln lernen …
Am Anfang begegneten mir eine Menge fremder Begriffe, die ich erst lernen musste: bf (beste Freundin), abf (allerbeste Freundin), mlg (mit lieben Grüßen), MSN (eine Chatplattform wie “Knuddels”, die bei Teenagern zurzeit besonders beliebt ist), Account (Zugang), Gilde (Zusammenschluss von Spielern, Spielergemeinschaft), Avatar (auch Charakter, das virtuelle Alter-Ego in einem Spiel), on-sein (online im Chat sein), Statusnachricht (Grund, warum man nicht “on” ist, beispielsweise: ich schlafe, esse, lerne, dusche, knutsche … gerade), hochleveln (durch besonderen Fleiß und besondere Leistung mehr Fähigkeiten und Ansehen für die eigene Spielfigur erwerben - beim Spiel “World of WarCraft” etwa spielen wirklich anerkannte Spieler alle auf Level 70, dem höchsten Level).
Dann folgten viele Tage und Nächte im Netz. Computersüchtige besprechen dort zwar gern und exzessiv ihre Probleme, aber sie sind sehr medienscheu und haben Angst, nicht ernst genommen zu werden. Zu oft wurde über das Thema reißerisch und unfair berichtet.
Wo liegt die Grenze?
Als ersten Protagonisten fand ich Lukas: in einem Forum gab er Spielsüchtigen Ratschläge, wie sie von der Sucht loskommen können. Er wusste, wovon er redet, versuchte gerade selbst, von der Sucht los zu kommen, hatte aber genug Abstand, um für Außenstehende eine Brücke zu bauen - zuerst für mich und dann für die Zuschauer in unserem Film. Danke Lukas, für deinen Mut, über deine Erfahrungen zu sprechen.
Zu Alexandra führten genauso verschlungene Wege: Sie ist eine Freundin der Tochter einer Freundin, mit deren Freundin ich befreundet bin. Sie war mir auf Anhieb sympathisch, aber war sie ein typisches Medienkind? Alexandra besitzt zwar jedes Computerspiel und verbringt jede freie Minute im Chat, aber sie ist gut in der Schule, engagiert sich in der Kirche, hat viele Freunde und eigentlich keine Probleme. Genau deshalb haben wir sie dann ausgesucht. Weil sie so untypisch ist und alle Klischees über Medienkinder über den Haufen wirft. Sie hat uns ganz unbefangen durch ihren Mediendschungel geführt und viele neue Eindrücke hinterlassen. Zu Alexandra führten genauso verschlungene Wege: Sie ist eine Freundin der Tochter einer Freundin, mit deren Freundin ich befreundet bin. Sie war mir auf Anhieb sympathisch, aber war sie ein typisches Medienkind? Alexandra besitzt zwar jedes Computerspiel und verbringt jede freie Minute im Chat, aber sie ist gut in der Schule, engagiert sich in der Kirche, hat viele Freunde und eigentlich keine Probleme. Genau deshalb haben wir sie dann ausgesucht. Weil sie so untypisch ist und alle Klischees über Medienkinder über den Haufen wirft. Sie hat uns ganz unbefangen durch ihren Mediendschungel geführt und viele neue Eindrücke hinterlassen.
Zurück in die reale Welt
Felix fand ich über eine Pferde-Therapeutin. Es gibt keine ausgewiesene Behandlung gegen Mediensucht, weil Mediensucht noch keine anerkannte Erkrankung ist. Kinder, die zu viel fernsehen oder Computerspielen werden meistens wegen Übergewicht oder Verhaltensauffälligkeiten behandelt; das ist für die Eltern oft der Anlass, etwas zu unternehmen. Ich habe herausgefunden, dass die Tiertherapie bei jüngeren Kindern dabei sehr erfolgreich ist und zu verschiedenen Therapeuten Kontakt aufgenommen.
Felix stand da ganz am Anfang der Behandlung. Seine Mutter machte sich vor allem Sorgen wegen seines Übergewichtes, eine Folge des vielen Fernsehens, es sollte sich dringend etwas in seinem Leben ändern. Wir haben die erste Therapiestunde mitgedreht und waren alle sehr überrascht: Felix ist regelrecht aufgeblüht und hat sich im Verlauf der Dreharbeiten völlig verwandelt.
Abdriften in die Parallelwelt
Lukas, Alexandra und Felix - und ihre Mütter - haben mir gezeigt, wie Kinder und Jugendliche mit Medien leben, was exzessiver Medienkonsum anrichten kann und wie man da raus kommt, wenn es zu viel wird. Ich habe verstanden, dass das Spielen, Chatten oder Fernsehen den Kindern und Jugendlichen ein gutes Gefühl gibt, dass es darum geht, Rollen auszuprobieren, Anerkennung zu finden und Erfolg zu haben. Wenn dabei aber die Grenze zur Sucht überschritten wird, wenn nur noch das virtuelle “Ich” zählt und die Wirklichkeit ganz verschwindet, dann stecken dahinter meistens ernsthafte andere Probleme - so wie bei Lukas. Und dann muss man dringend etwas unternehmen.
Manche Experten zum Thema “Computersucht” sprechen von einer “verlorenen Generation”, besonders in Bezug auf die Jungen. Ich sehe das nicht ganz so pessimistisch: So wie Lukas, Alexandra und Felix sind die meisten jungen Menschen voller Neugier, Lebenshunger und Abenteuerlust. Wenn sie die Möglichkeit bekommen, diese Sehnsüchte in der Realität zu befriedigen, dann verlieren Medien ganz von allein ihren Reiz und ihre Bedeutung. Und manchmal können Eltern, Lehrer, Freunde auch dabei helfen, das Abenteuer “Realität” zu entdecken. Das habe ich mir jedenfalls für meine beiden fernseh- und computerbegeisterten Söhne vorgenommen.